USA: Atheistische und säkulare Häftlinge werden zu christlichen Praktiken genötigt

Die Bürgerrechtsorganisation “Amerikanische Atheisten” hat im US-Bundesstaat West Virginia einen wichtigen Sieg in einem Rechtsstreit erfochten. Einem Atheisten und säkularen Humanisten waren die Teilnahme an christlichen Gebeten und anderen religiösen Praktiken aufgezwungen worden, um zur Bewährung aus der Haft entlassen zu werden. Das Gericht entschied, dass die Gefängnisleitung die verfassungsgesetzlich garantierten Rechte des Häftlings verletzt hat. Die Details des religiösen Bewährungsprogramms, das in anderen US-Bundesstaaten in ähnlicher Weise noch angewendet wird, sind empörend.

Andrew T. Miller büßte zum Zeitpunkt der Klagseinbringung als Häftling im Gewahrsam des Westens Virginia Division of Corrections and Rehabilitation (WVDCR) eine mehrjährige Haftstrafe für einen begangenen Einbruch ab. Das WVDCR ist eine Abteilung des Heimatschutzministeriums des Bundesstaates West Virginia und überwacht alle Funktionen des Justizvollzugsbetriebs. Unter anderem betreibt es mit der Unterstützung von Bundesmitteln das Bewährungsprogramm “Residential Substance Abuse Treatment” (RSAT). 

Menschen, die für eine Bewährung am RSAT teilnehmen wollen, werden getrennt von den allgemeinen Insassen in speziell ausgewiesenen RSAT-Einheiten untergebracht und erhalten ein Handbuch mit allgemeinen Informationen, Regeln und Vorschriften des Programms. Die erste Seite des Handbuchs enthält eine “Willkommensnachricht” und einen Verweis auf die Beilagen. Die Beilagen inkludieren unzählige religiöse Texte, wie das “Vaterunser” oder Sätze wie jene:

  • “Wir werden plötzlich erkennen, dass Gott für uns tut, was wir nicht für uns selbst tun konnten”
  • “Für unser Gruppenziel gibt es nur eine ultimative Autorität: einen liebenden Gott”,
  • “Wir haben die Entscheidung getroffen, unseren Willen und unser Leben dem Gott, wie wir ihn verstanden haben, zu überlassen”

Damit aber nicht genug, denn Agnostiker und Atheisten werden in den Schriften ausdrücklich verurteilt und verspottet. Ihnen wird vorher gesagt, sie seien “behindert durch Eigensinn, Empfindlichkeit und unvernünftige Vorurteile” und “zu einem alkoholischen Tod verdammt“.

Die teilnehmenden Häftlinge durchlaufen im Laufe des Programms, das zwischen sechs und 12 Monate dauern kann, fünf Phasen. Um von einer Phase in die nächste aufzusteigen, muss jeder Teilnehmer Testfragen beantworten. Testfragen sowie die Bewertungsmethode wurden von der Texas Christian University entwickelt. Zum Beispiel muss ein Häftling, um in die Phase 2 aufzusteigen, “(d)ie Entscheidung treffen, unseren Willen und unser Leben der Fürsorge Gottes, wie wir ihn verstanden haben, zu überlassen“. In weiteren Phasen muss der Häftling Fragen zu seinem Verhältnis zu Gott und zur Rolle des Gebets beantworten: 

  • “Das bedeutet Gott für mich”
  • “So stelle ich mir Gott vor wie Gott ist”
  • “So kümmert sich Gott um mich (oder könnte sich um mich kümmern)” 
  • “Das ist ein Bild, das zeigt, wie ich mich fühle (oder fühlen würde), wenn ich von Gott umsorgt werde.(Zeichne oder beschreibe.)”
  • “Das bedeutet das Gebet für mich”
  • “Das bedeutet die Kenntnis des Willens Gottes für mich”

Das Programm fordert auch die Teilnahme an täglichen Treffen, zu denen das Rezitieren des Gelassenheitsgebets und des Vaterunsers gehört.

Als Fazit kann gesagt werden, West Virginia zwingt in den Gefängnissen inhaftierten Menschen das Christentum als Bedingung für ihre Freilassung auf.

Für viele Justizvollzugsbeamte ist die Verbreitung religiöser Propaganda wichtiger als die Achtung der Rechte der Menschen oder der Verfassung“, konstatiert Geoffrey T. Blackwell, Prozessberater der Bürgerrechtsorganisation Amerikanische Atheisten.

In der Klage wurde behauptet und dies wurde auch nicht bestritten, dass Herrn Andrew T. Miller gewissenhafte Weigerung, das religiöse Bewährungsprogramm zu absolvieren, ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung war, ihm dreimal (!) die Bewährung zu verweigern. 

Damit verletzte der WVDCR seine verfassungsmäßigen Rechte, wie das Gericht nunmehr entschied. Der Argumentation  der Beklagten, es handle sich um  ein „spirituelles“ und nicht „religiöses“ Programm, folgte der zuständige Richter nicht. Mit dieser Unterscheidung haben die Beklagten faktisch eingeräumt, dass das RSAT seinen Teilnehmern spezifische spirituelle Überzeugungen aufzwingt. Schon im Sommer, im Zuge einer ersten einstweiligen Verfügung hatte das Gericht bereits den „unbestreitbar religiösen Charakter des Programms“ betont. Dazu gehörten für den Richter das obligatorische Rezitieren christlicher Gebete bei Versammlungen und offenkundig religiöse Inhalte im Kursmaterial, das von der Texas Christian University entwickelt wurde.

Die beklagten Parteien haben das Verfahren in allen Punkten verloren. Andrew T. Miller wurde offiziell im Rahmen des Bewährungsprogramms für gewaltfreie Straftäter freigelassen. Die religiösen Komponenten wurden aus dem RSAT-Programm entfernt. Die Anwaltskosten in Höhe von 80.000 US-Dollar müssen den Amerikanischen Atheisten ersetzt werden.

Bemerkenswert:  Die Standfestigkeit des Atheisten und säkularen Humanisten Andrew T. Miller ist bewundernswert. Er hat es 3x in Kauf genommen, länger im Gefängnis zu verbleiben, als er eigentlich hätte müssen. Nach seiner Freilassung sagte Andrew T.  Miller:

 „Ich war eine Zeit lang praktisch eingesperrt, nur weil ich kein Christ bin. Um meine Freiheit zu sichern, zwang West Virginia mich, einen Atheisten, als Anti-Atheist aufzutreten, zu einem Gott zu beten, an den ich nicht glaube, und ein Evangelium zu predigen, das mich verurteilt. Ich habe immer wieder versucht, in ein passenderes Behandlungsprogramm aufgenommen zu werden. Niemand sollte eine Klage einreichen müssen, um die Regierung zu zwingen, ihrer verfassungsmäßigen Verpflichtung nachzukommen, die Religionsfreiheit aller, auch der Atheisten, zu schützen.“

(Quelle: Amerikanische Atheisten, Beitrag vom 15.11.2023, abgerufen am 13.12.2023)

Ohne die Bereitschaft von Andrew T. Miller, diesen langwierigen und für ihn persönlich sehr existentiellen Kampf aus Prinzip zu führen, würde der US-Bundesstaat West Virginia weiterhin den Menschen in seinem Strafvollzugssystem verfassungswidrig die christliche Religion aufzwingen. Die Entscheidung wird sich hoffentlich auch auf die diskriminierende Rechtslage in anderen Bundesstaaten auswirken.

Weiterführende Links auf der Webseite der American Atheists:

Die Klage im Originalwortlaut ist hier abrufbar: Klageschriftsatz

Die erste einstweilige Gerichtsverfügung findet sich hier: Memorandum Opinion and Order 

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2 Antworts

  1. Martina sagt:

    Es ist schrecklich, wie Religionen anders denkenden Menschen ihren Glauben aufzwingen. Vor allem in Situationen, wo beinahe keine Wahl besteht, dem zu entkommen, ohne grob benachteiligt zu werden.
    Der Artikel war wieder wunderbar und aufschlussreich recherchiert und ein Genuss zu lesen. Danke!

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