Maßnahmen gegen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in Österreich (1)

Kindesmissbrauch
Bild Unsplash/Tertia van Rensburg

In den letzten Monaten sorgten zwei große Untersuchungen über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche um Aufregung und steigende Austrittszahlen. In Frankreich wurden bis zu 216.000 Opfer von 2.900 bis 3.200 Priestern geschätzt, in der Diözese München-Freising 497 dokumentierte Opfer von 65 Tätern oder Verdächtigen. Die Methodologie ist natürlich eine ganz andere, die französische Untersuchung schätzt die tatsächliche Opferzahl mit repräsentativen, anonymen Umfragen zusätzlich zur Analyse kirchlicher Unterlagen; in München hat sich die beauftragte Rechtsanwaltskanzlei nur auf Dokumente der Diözese gestützt – aber immerhin auf vollständige (WSW-Studie, Seite 29), was früher nicht immer üblich war. Damit ist dort das “Dunkelfeld” von nicht gemeldeten Fällen, in Frankreich die überwiegende Mehrzahl, nicht erfasst.

Die Studienveröffentlichungen haben auch in Österreich Diskussionen ausgelöst. Nach den Ereignissen in Frankreich über das Beichtgeheimnis, nach der München-Freising-Untersuchung sah sich sogar die sonst eher schweigsame österreichische “Unabhängige Opferschutzanwaltschaft” veranlasst, Stellung zu nehmen. Im Fernsehen lobte Pastoraltheologe Paul Zulehner den österreichischen Weg als “der Weltkirche um Jahrzehnte voraus”.

Eine österreichische Lösung

In Österreich gab es bereits in den 1990-er-Jahren einen Skandal um den 2003 verstorbenen Wiener Erzbischof Groer – der sich nie zu den Vorwürfen äußerte und auch nie vor Gericht verantworten musste. Danach wurden erste Ombudsstellen bei den Erzdiözesen eingerichtet. 2010 folgte eine nächste Enthüllungswelle, verbunden mit einer auch seither nie erreichten Austrittswelle aus der katholischen Kirche. Die Kirche lernte daraus, wie schädlich Medienberichte und die gesellschaftliche Diskussion für sie sind – Kirchenaustritte führen zu monetärem Schaden und auch Verlust an Reputation und Einfluss. Vertreter einer Organisation, die Verbrechen vertuscht und Verbrecher nur hin und her versetzt, wo sie neue Opfer finden können, werden zu Recht kritisch gesehen, wenn sie in Ethikräten und Medien zu gesellschaftlichen Themen Stellung nehmen.

Also gab es 2010 folgende wesentliche Maßnahmen laut Darstellung der Kirche: In allen Diözesen wurden die Ombudsstellen eingerichtet, die Regeln vereinheitlicht und ein Bußgottesdienst abgehalten. Es ist sehr katholisch, Buße mit dem zu leisten, was man am liebsten tut: Einem Gottesdienst.

Weiters wurde die “Unabhängige Opferschutzanwaltschaft” oder “Opferschutzkommission” – sie verwendet auf ihrer Homepage beide Bezeichnungen – ins Leben gerufen, mit der ehemaligen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic von der ÖVP als Aushängeschild.

Frau Klasnic ist sicherlich eine untadelige und integre Persönlichkeit, aber die Optik ist bei ihr extrem schief: Sie gilt allgemein als Vertreterin des konservativ bis reaktionär katholischen Flügels der ÖVP, war beim berüchtigten Gebetsfrühstück Ende 2020 im Parlament Vorbeterin, und ist Vorsitzende des Dachverbandes Hospiz Österreich, auch ein Bereich mit starkem kirchlichem Engagement. Das Attribut “unabhängig” wird im Zusammenhang mit ihr häufig nicht ernst genommen, und auch ihre Beauftragung kann nicht als unabhängig bezeichnet werden.

Die Kommission führt einige weitere prominente Mitglieder an und erklärt auf der Homepage, was sie alles gemacht haben und wie sie sich 2010 einbringen wollten, aber von konkreten Tätigkeiten wird nicht berichtet.

Die Unabhängigkeit der “Anwaltschaft” wurde von Anfang an in Frage gestellt, insbesondere vom Verein der Betroffenen, auf deren Repräsentation in der “Anwaltschaft” vergessen wurde. Bei den Untersuchungen im Ausland waren diese Gruppen selbstverständlich mit dabei und brachten die Perspektive der Betroffenen und ihre Sicht auf die Aufarbeitung und Vorschläge zur Verbesserung ein. Diese Komponente fehlt in Österreich völlig.

Der gesamte Vorgang wird auf der von der Bischofskonferenz betriebenen Webseite Ombudsstellen beschrieben, wenn man sich nicht davon beirren lässt, dass gerade der Link “Verfahrensordnung” nirgendwo hinführt. Unter dem keinerlei negative historische Assoziationen weckenden Titel “Die Wahrheit wird euch frei machen” ist die dritte Auflage der Rahmenordnung verfügbar, natürlich mit Gebetstext und päpstlichem Schreiben vor dem eigentlichen Inhalt. Sie beschreibt, dass die “unabhängige Opferschutzanwältin” von den Vorsitzenden der Bischofskonferenz und Ordenskonferenz für fünf Jahre einberufen wird und den Vorgang, wie mit Meldungen von sexueller und anderer Gewalt durch Angehörige der katholischen Kirche umgegangen wird.

Dieses Verfahren ist sehr gut geeignet, Betroffene von einer Meldung abzuhalten und zeigt die engen Grenzen der “Unabhängigkeit” auf. Die Kontaktaufnahme erfolgt nämlich bei den Ombudsstellen in den Diözesen bei Mitarbeitern der katholischen Kirche – dies stellt auch die Webseite der Opferschutzanwaltschaft klar. (“Sie sind betroffen? Die Ombudsstellen der Diözesen nehmen Ihre Meldungen vertrauensvoll entgegen…”) Danach entscheidet eine “Diözesane Kommission” über die Weiterleitung des Falles an die “unabhängige” Opferschutzanwaltschaft (Rahmenordnung, Seite 54). Wenn kein Wunsch des Opfers nach therapeutischer oder finanzieller Hilfestellung besteht, wird die “Opferschutzanwaltschaft” gar nicht kontaktiert (Seite 71) – und der Fall kommt vermutlich auch nicht in die Statistik der von der “Anwaltschaft” positiv entschiedenen Fälle.

Eine Meldepflicht haben die Ombudsstellen nur an die “Glaubenskongregation” (früher: Inquisition) im Vatikan. Das hat den Vorteil (für die Kirche), dass die Verfahren geheim im Ausland durchgeführt werden, falls es dazu kommt. Auf Seite 66 beschreibt die Rahmenordnung, dass keine Anzeigepflicht gegenüber staatlichen Behörden besteht. Eine Anzeige würde zu strafrechtlichen Ermittlungen und, wenn sich der Verdacht erhärtet, zu einer öffentlichen Gerichtsverhandlung führen – die in Österreich in diesem Bereich de facto nicht stattfinden. Im Verfahren wird den Betroffenen das Angebot gemacht, sie bei einer Anzeige zu unterstützen, und die Konsequenzen davon sicherlich eindringlich geschildert. Es scheint so zu sein, dass praktisch alle Betroffenen sich mit der von der Kirche angebotenen “Entschädigung” begnügen, weil im Strafprozess für sie selbst zusätzlich nicht viel zu gewinnen ist.

Strafprozesse würden dazu führen, dass Täter auch wirklich nach den Gesetzen, die für alle gelten, verurteilt werden, und die Öffentlichkeit über die Taten informiert wird. Es ist natürlich verständlich, wenn eine betroffene Person diese Form der öffentlichen Aufarbeitung nicht wünscht. Aber die Vertuschung früherer Fälle und die institutionelle Verantwortung werden so nie gerichtlich aufgearbeitet, die Täter und Vorgesetzten sind geschützt. Wir erfahren nicht, welche Verbrechen vielleicht vermeidbar gewesen wären, und wer die Entscheidung darüber gefällt hat.

Ein wenig beachteter Aspekt ist, ob die bisher zuerkannten 33,6 Mio. € etwa aus staatlichen Zahlungen oder Kirchenbeiträgen stammen. Diese in Frankreich sehr kontrovers diskutierte Frage wurde für Österreich bisher nicht beantwortet.

Ein weiteres, bisher offensichtlich vergessenes Thema wäre, was mit den Opfern in anderen Religionsgemeinschaften geschieht. Die katholischen Diözesen können ja eher nicht für sie zuständig sein. Das ist ein starkes Argument dafür, dass der Staat eine wirklich unabhängige Stelle mit klaren Regeln, ohne Einbeziehung ausländischer “Behörden”, dafür mit Anzeigepflicht, betreiben sollte.

Zweiter Teil: Zahlen und Berechnungen zum katholischen Kindesmissbrauch in Österreich

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