Aufklärung oder Verdunkelung? (3)
Andere Teile dieser Serie: Maßnahmen gegen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in Österreich (1), Zahlen und Berechnungen (2)
International gesehen ist die Aufklärung der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche sehr unterschiedlich angegangen worden. In Ländern wie die USA und Australien, die keine große Tradition der Verflechtung zwischen katholischer Kirche und Staat haben, waren es eher staatliche Untersuchungskommissionen; in Europa hat die Kirche häufig selbst eine Untersuchung beauftragt und in zunehmendem Maße auch kooperiert. Die Ergebnisse der Untersuchungen haben die Öffentlichkeit regelmäßig geschockt. In Deutschland, wo die Diözesen die Studien ohne Koordination in Auftrag geben, gibt es in letzter Zeit alle drei bis sechs Monate ein neues Gutachten, verbunden mit öffentlicher Diskussion und Kirchenaustritts-Wellen, die die für den Austritt notwendigen staatlichen Behörden regelmäßig überlasten. Sehr ungeschickt.
Die katholische Kirche in Österreich hat, “der Weltkirche um Jahrzehnte voraus”, das perfekte Verfahren gefunden, um genau diese Effekte zu vermeiden. Die Fälle gibt es, das erfahren wir direkt von der Bischofskonferenz, auch nach der Groer-Affäre; schließlich konnte man daraus lernen, dass es keine Konsequenzen für den Tatverdächtigen und die Institution gibt. Erst seit 2010 sind österreichweite, ernsthafte Bemühungen der Kirche erkennbar, das Problem intern – und zwar möglichst nur dort – mit den Betroffenen zu klären. Der Staat zeigt kein erkennbares Interesse, selbst eine systematische Aufklärung zu betreiben oder auch nur anzuregen. Schließlich gibt es ja bereits die österreichische Lösung. Der Gesellschaft entgeht damit das Wissen über die tatsächliche Größe des Problems und die wahre Anzahl der Betroffenen, von denen viele früher am System gescheitert, vielleicht ins Ausland gegangen sind oder in ihrem Trauma allein gelassen den Freitod gewählt haben.
Es ist sehr wichtig, festzuhalten, dass der beschriebene Vorgang der Erfassung von seit 2010 aktiv gemeldeten Taten nichts mit einer systematischen Aufklärung zu tun hat. Es gibt viele mögliche Gründe, warum jemand eine Tat nicht im neuen Prozess seit 2010 melden konnte. Die Gutachten, Studien und andere Untersuchungen im Ausland basierten immer auf allen vorhandenen oder zugänglichen Dokumenten der Kirchen. Es ist ein kommunikatives Meisterstück der katholischen Kirche in Österreich, dass mit dem Schaufenster der Opferschutzanwaltschaft eine solche komplette Aufarbeitung noch nicht einmal die Stufe der öffentlichen Diskussion erreicht.
Noch gäbe es eine Chance, dass in Archiven der Pfarren und Diözesen die Unterlagen über Beschwerden und Meldungen vor 2010 auffindbar sind. Aus den deutschen Missbrauchsstudien wissen wir, dass die Bischöfe Geheimarchive mit den besonders krassen Fällen führten. Mit dem seit 2010 geltenden System, dass nur auf Betroffenenmeldungen reagiert wird, wird eine Aufarbeitung dieser früheren Fälle (die ja die große Mehrheit darstellen dürften) in vielen Fällen vermieden. Statt Hausdurchsuchungen bei der Organisation, die bekanntermaßen Unterlagen zu sexuellem Kindesmissbrauch durch ihre Mitglieder führt, unterstützt die Regierung lieber Bestrebungen in der EU, im Namen des Kinderschutzes die vertrauliche Kommunikation der ganzen Bevölkerung durchsuchen zu lassen.
Martin Thür sprach am Abend nach der Veröffentlichung der München-Studie im Interview mit Paul Zulehner die bisher fehlende systematische Erfassung der Fälle in Österreich explizit an und fragte, ob so eine Aufarbeitung wie in München notwendig wäre. Der erfahrene Pastoraltheologe wich aus und nannte in seiner Antwort zwei Symposien (eine an der theologischen Fakultät, eine im Vatikan) und die daraus folgende Präventionsarbeit.
Mit anderen Worten: Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen. Schauen wir in die Zukunft, vergessen wir Vergangenheit und Gegenwart.
Eine aktive, vollständige Aufarbeitung und die Verbesserung der Melde- und Entschädigungsvorgänge unter staatlicher Kontrolle ist überfällig und ohne Alternative. Das ist eine Notwendigkeit fürs Vertrauen in die Unabhängigkeit der Ermittlungsbehörden und der Justiz, und – wenn man den Beteuerungen der Bischöfe in Deutschland nach den Gutachten glauben kann – auch eine große Wohltat für die Kirche selbst.
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