Hamasangriff auf Israel: Was will die Terrormiliz, woher sind die Waffen?

Einschätzungen von Terrorismusforscher Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, aus Interviews mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland und dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF).

Die Hamas hat Israel mit mehr als 2000 Raketen angegriffen, ist in Dutzende Orte vorgedrungen und hat Geiseln genommen. Wer steckt hinter der Terrormiliz Hamas, welches Ziel verfolgt sie und woher stammen Geld und Waffen? Hier nun einige Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Am 7. Oktober 2023 trafen mehrere Raketen aus dem Gazastreifen israelische Städte, abgefeuert von der Terrormiliz Hamas. Der Iron Dome, das Raketenschutzschild Israels, konnte nicht alle der rund 2200 Raketen abfangen. Auch über das Meer und über Land griff die Hamas Israel an, verschanzte sich mit Geiseln in Häusern oder verschleppte Zivilisten und Soldaten. Hunderte Israelis wurden getötet, Tausende verletzt. Es ist der schwerste Angriff auf Israel in der jüngeren Geschichte des Staates.

15 Fragen und Antworten zur Terrororganisation Hamas

  1. Was ist die Hamas?
  2. Was ist das Ziel der Hamas?
  3. Wer finanziert die Hamas?
  4. Woher hat die Hamas ihre Waffen?
  5. Wie viele Kämpfer hat die Hamas?
  6. Was ist die Rolle des israelischen Geheimdiensts?
  7. War die Eskalation überraschend?
  8. Wie tickt die Hamas?
  9. Wie sind die Chancen der Hamas?
  10. Wie groß ist der Rückhalt der Hamas im Gazastreifen?
  11. Wer unterstützt die Hamas noch?
  12. Was ist die Rolle Russlands?
  13. Wird dieser Angriff auch auf andere Staaten übergreifen?
  14. Welchen Zweck verfolgt die Hamas mit den Geiselnahmen?
  15. Wie sind die Chancen für Verhandlungen?

Was ist die Hamas?

Die Hamas ist eine extremistische, islamistische Bewegung, die von der EU, den USA, Kanada, Ägypten und Japan als Terrororganisation eingestuft wird. Der Name Hamas bedeutet übersetzt „Eifer“, ist jedoch zugleich ein Akronym für „Islamische Widerstandsbewegung“ (arabisch Harakat Muqawama Islamiya). Der Terrorismusforscher Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, erklärt im RND-Interview: „Es handelt sich um eine sunnitische Terrororganisation, die 1987 aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist.“

Zunächst trat die Hamas als Wohltätigkeitsorganisation auf. „Der Ansatz der Muslimbruderschaft war aber schon immer, die Gesellschaft von der Basis aus zu islamisieren“, so Neumann. Dazu gehöre, dass man Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser betreibe und mit einer Wohlfahrtsorganisation ärmere Menschen unterstütze – und das mache die Hamas laut dem Experten noch heute sehr konsequent.

Die Hamas verfügt über mehrere militärische Gruppen. Einer der bewaffneten Flügel der Hamas sind die Kassam-Brigaden. Sie haben in den vergangenen Jahren viele Angriffe auf Israel verübt und bekannten sich auch zu den jüngsten Angriffen am 7. Oktober 2023.

Was ist das Ziel der Hamas?

Im 1988 veröffentlichten Manifest der Hamas erklären die Terroristen als zentrales Ziel die vollständige Zerstörung des Staates Israel durch einen Heiligen Krieg (Jihad). Sie sprechen Israel das Existenzrecht ab und wollen stattdessen einen Islamischen Staat erreichten.

Laut Terrorexperte Neumann lasse sich bereits seit einigen Jahren beobachten, dass die Hamas eine nur auf sich selbst bezogene Gruppe geworden ist. Sie verfolge nicht mehr wirklich das Ziel, Israel zu besiegen und einen palästinensischen Staat zu gründen. „Es geht der Hamas vor allem darum, die eigene Macht zu erhalten. Macht über die Palästinenser“, sagt Neumann. Die Hamas setze immer wieder die Spirale der Gewalt in Gang, um sich dann als Verteidiger der Palästinenser zu inszenieren.

Bei den Wahlen in palästinensischen Gebieten 2006 siegte die Partei der Hamas, der Westen erkannte das Wahlergebnis nicht an. Die radikale Gruppe vertrieb die Anhänger von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und übernahm 2007 die Kontrolle im Gazastreifen. Nachdem die Legislaturperiode 2010 ausgelaufen war, gab es keine Wahlen mehr. Die Opposition und die freie Meinungsäußerung werden im Gazastreifen von der Hamas unterdrückt.

Wer finanziert die Hamas?

Einer der größten Unterstützer der Hamas ist seit vielen Jahren der Iran. Mit wie viel Geld die Islamische Republik die Terrorgruppe unterstützt, ist nicht öffentlich bekannt. Schätzungen aus den USA belaufen sich auf etwa 100 Millionen US-Dollar im Jahr. „Das iranische Regime führt hier einen Stellvertreterkrieg und kämpft gegen Israel, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen“, sagt Experte Neumann über die Rolle des Iran.

Das iranische Regime führt so einen Stellvertreterkrieg und kämpft gegen Israel, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Gegenüber den eigenen Anhängern kann der Iran sagen: Schaut her, wir sind die Widerstandsfront und tun etwas gegen Israel. Gleichzeitig kann das Regime behaupten, wir haben mit alldem nichts zu tun.

Katar, Fußball-WM-Gastgeber von 2022,zählt ebenfalls zu den größten Geldgebern der Terrormiliz. Seit 2012 hat das Land mehr als 2,3 Milliarden US-Dollar an die Hamas gezahlt. Das Geld war unter anderem für den Wiederaufbau von Wohnungen und Infrastruktur im Gazastreifen bestimmt. Wie abhängig die Hamas von Mitteln aus Katar ist, zeigten Berichte im Sommer 2023, als die Bewegung aufgrund verzögerter Gelder die Gehälter von 50.000 Beschäftigten des öffentlichen Sektors nicht mehr bezahlen konnte. Etwa 30 Millionen US-Dollar soll Katar jeden Monat an die Hamas überweisen.

Vor einigen Jahren zählte auch die Türkei zu den Geldgebern der Hamas. Offiziell hat Istanbul die finanzielle Hilfe eingestellt, doch Berichten zufolge floss auch danach noch Geld an die Hamas.

Woher hat die Hamas ihre Waffen?

Einige Raketen stellt die Terrororganisation selbst her“, sagt Experte Neumann. „Die richtig guten und modernen Raketen mit einer Reichweite bis nach Jerusalem stammen aber aus dem Iran.“ Über die Küste und über Ägypten schmuggelt die Hamas auch Waffen aus dem Ausland nach Gaza. Das Arsenal wird auf 15.000 Raketen geschätzt.

Zudem erhält die Hamas auch das Know-how für die Produktion von Waffen aus dem Iran. Unterstützung beim Bau von Waffen dürfte die Hamas auch von der Hisbollah erhalten, die im Süden des Libanons immer wieder Angriffe auf Israel verüben. Die Hisbollah verfügt über ein sehr modernes und riesiges Waffenarsenal, das insbesondere moderne Raketen mit großer Reichweite umfasst.

Was ist die Rolle des israelischen Geheimdiensts?

Die israelischen Geheimdienste haben diese Situation eindeutig falsch eingeschätzt, denn dieser Angriff muss monatelang im Voraus vorbereitet worden sein. Diese Offensive, genau 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg, hätte niemanden überraschen müssen. Seit einiger Zeit gab es Geraune in palästinensischen Gruppen, dass es bald zu einer größeren Aktion der Hamas kommen wird. Bisher hatte man immer geglaubt, dass die Israelis den Gazastreifen nachrichtendienstlich zu 120 Prozent durchdrungen hätten. Beobachter gingen davon aus, dass jedes Gespräch abgehört und ausgewertet wird. Israel hat wohl Hunderte Informanten in den verschiedenen Fraktionen der Hamas und bekommt sonst alles mit. Jetzt wird man sich ernsthaft fragen müssen, was schiefgegangen ist.

War die Eskalation überraschend?

Nein, in den vergangenen Wochen hat sich die Eskalation bereits angedeutet und die Situation immer weiter zugespitzt. Es gab intensive Gespräche zwischen verschiedenen Terrororganisationen und ihren Unterstützern. Aber dass dieser Angriff so großflächig und – aus der Sicht von Hamas – so erfolgreich verlaufen würde, das ist tatsächlich überraschend. Mir fällt kein Angriff der letzten 20 Jahre ein, bei dem so viele Israelis an einem Tag getötet und verwundet wurden. Die Enormität des jüngsten Angriffs ist eine große Provokation für Ministerpräsident Netanjahu, der sich immer als Garant für die Sicherheit der Menschen in Israel dargestellt hat.

Wie tickt die Hamas?

Es handelt sich um eine sunnitische Terrororganisation, die 1987 aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Sie ist zunehmend vom Iran abhängig, der inzwischen ihr Hauptsponsor ist, auch wenn sie – anders als beispielsweise die libanesische Hisbollah – nicht vom Iran gegründet oder gesteuert wird. Trotzdem sind die strategischen Überlegungen des Iran als ihr größter Unterstützer für die Hamas sehr wichtig. Das sehen wir auch bei diesem schweren Angriff.

Inwiefern?

Wenn es überhaupt irgendein strategisches Kalkül dieser Aktion gab, dann ist es wahrscheinlich das Bemühen des Iran, die Normalisierungsbestrebungen zwischen den arabischen Staaten und Israel zu stören oder gar zum Erliegen zu bringen. Das könnte ich mir als strategisches Ziel dieses Angriffs gut vorstellen.

Wie sind die Chancen der Hamas?

Die Hamas dürften auch keine Chancen haben, gegen das israelische Militär zu gewinnen, und trotzdem versuchen die Hamas seit 20 Jahren immer wieder, Israel militärisch unter Druck zu setzen. Ein Gegner, der hundertmal stärker ist als sie selbst. Mit jedem dieser Versuche sind das palästinensische Territorium und der politische Spielraum für die Palästinenser kleiner geworden – und den Menschen geht es schlechter. Hinzu kommt, dass es in der Hamas Personen gibt, die von dieser Situation politisch und finanziell profitieren.

Wie groß ist der Rückhalt der Hamas im Gazastreifen?

Da es keine unabhängigen Umfragen im Gazastreifen gibt, ist eine Antwort sehr schwierig. Der Ansatz der Muslimbruderschaft war aber schon immer, die Gesellschaft von der Basis aus zu islamisieren. Dazu gehört, dass man Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser betreibt und mit einer Wohlfahrtsorganisation ärmere Menschen unterstützt– und das macht die Hamas sehr konsequent. Deshalb hat sie auch einen gewissen Rückhalt. Dieser Ansatz schafft auch Probleme für den Westen: Wenn Deutschland beispielsweise eine Schule im Gazastreifen unterstützen will, wird diese höchstwahrscheinlich von der Hamas betrieben. Da Israel zurückschlägt, wird das den Rückhalt der Hamas erhöhen. Wie auch in der Vergangenheit wird sich die Gruppe als Verteidiger der eigenen Bevölkerung inszenieren. Das ist ein tragischer Zyklus.

Wer unterstützt die Hamas noch?

Es gibt eine sehr enge Zusammenarbeit mit Hisbollah, die noch professioneller als Hamas agieren und über ein viel größeres Waffenarsenal verfügen. Diese strategische Allianz zwischen den sehr unterschiedlichen Gruppen wäre vor 30 Jahren noch undenkbar gewesen. Frühere Unterstützer, also die Golfstaaten, haben sich inzwischen von der Hamas abgewendet und Frieden mit Israel geschlossen oder stehen kurz davor, wie Saudi-Arabien. Von denen können die Hamas keine Waffen mehr erwarten.

Was ist die Rolle Russlands?

Vertreter der Hamas waren letztes Jahr zweimal zu Besuch in Moskau. Stärkt auch Russland die Hamas? Die Russen sind genau wie die Chinesen sehr vorsichtig, sich in diesem Konflikt zu positionieren. Sie wollen sich alle Optionen offenhalten. Da viele russische Juden nach Israel ausgewandert sich, gibt es sehr enge Beziehungen zur Regierung in Jerusalem.

Wird dieser Angriff auch auf andere Staaten übergreifen?

Ist dieser Angriff eventuell ein Vorbote für ein Aufflammen eines größeren Krieges, der auch auf andere Staaten übergreifen könnte?

Die großen Staaten im Nahen Osten haben kein Interesse an einem Flächenbrand, auch der Iran nicht. Er hat an vielen Fronten gerade Probleme und will auch nicht die letzten Verbindungen mit dem Westen abbrechen. Die Wahrscheinlichkeit eines Flächenbrandes ist aus meiner Sicht daher eher gering.

Welchen Zweck verfolgt die Hamas mit den Geiselnahmen?

Die Geiseln haben zwei Funktionen für die Hamas. Die erste ist die Demütigung Israels. Alle Welt kann sehen, hier sind Israelis in palästinensischer Gefangenschaft. Die Hamas kann mit ihnen machen, was sie möchte. Sie hat die absolute Macht über die Geiseln. Das ist natürlich für viele Israelis sehr, sehr demütigend.

Auf der anderen Seite haben diese Geiseln natürlich die Funktion, die Israelis in den Gazastreifen zu locken. Das möchte die Hamas. Sie möchte, dass die Israelis kommen, versuchen die Geiseln zu befreien, sich dabei in Häuserkämpfen verwickeln und so alle möglichen hässlichen Bilder produzieren, sodass am Ende quasi eine Art Täter-Opfer-Umkehr entsteht. Nicht mehr die Hamas stehen dann als Täter da, sondern die Israelis.

Wie sind die Chancen für Verhandlungen?

Die Chancen für Verhandlungen sind sehr, sehr gering. Zum einen, weil die Israelis sich nicht darauf einlassen wollen. Sie wollen ihre Leute befreien. Sie wollen auch, dass alle Leute sehen, dass sie von Israelis befreit wurden. Zum anderen wissen wir aus Erfahrung in der Vergangenheit, dass Geiselverhandlungen zum Teil jahrelang dauern. Das sind Vermittlungsbemühungen, die sich über viele Jahre erstrecken. Ich glaube, aktuell haben weder die Hamas noch die Israelis die Geduld dazu.

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