Verstärkter Senat des OGH ändert seine Judikatur „zum Schaden“ bei von den Eltern nicht erwünschten Kindern
Der österreichische Oberste Gerichtshof veröffentlicht seine Urteile ohne Nennung der Klarnamen der Parteien, wofür man ihm dankbar sein sollte. Denn wie würde sich ein Mensch fühlen, wenn er aus dem Internet erfährt, dass er Gegenstand eines Schadenersatzprozesses gewesen ist? Ein Verfahren, das die eigenen Eltern angestrebt hatten, weil sie ihr Kind nicht wollten und nur wegen eines Arztfehlers nicht abtreiben konnten. Und wenn dieses Kind eine schwere Behinderung hat und genau dies der Grund für den Abtreibungswunsch gewesen wäre, wie unwert, unnütz und ungeliebt würde es sich in diesem Moment fühlen? Wie verkraftet man die Erkenntnis, dass die eigene Existenz für die Eltern so drastisch unerwünscht war, dass man eigentlich nicht leben sollte? Wie geht man damit um, für die Eltern ein Schaden zu sein, für denn eine andere Person haftbar gemacht werden soll?
Ist das überhaupt möglich? Sind ungewollte Kinder, egal ob gesund oder schwer behindert, ein Schaden? Ein verstärkter Senat des OGH ist angetreten, diese Fragen endgültig aus rechtlicher Sicht zu klären. Sein Urteil im November 2023 ist von den Medien weitestgehend ignoriert worden, sollte jedoch Humanist*innen interessieren.
Der OGH hat sich von seiner bisherigen Rechtsprechung distanziert, was nicht allzu häufig vorkommt. Schon deshalb ist das Urteil bemerkenswert. Er hat sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht. Das Urteil ist rund 60 Seiten lang. Die Richter haben die Pros und Contras der bisherigen Rechtsprechung und des Schrifttums umfassend, dialektisch präzise und geflissentlich abgewogen. Das Ergebnis wird vor allem der Ärzteschaft nicht gefallen.
Zur Problemstellung
Für uns Humanist*innen steht unverrückbar fest, dass ein Mensch niemals als ein Schaden angesehen werden darf. Aber dieses humanistische Paradigma kann in einem Rechtsstaat zu nicht gewollten, unbilligen Ergebnissen führen, was ich im Folgenden als Problemstellung darlegen möchte.
„Casus sentit dominus“ (deutsch: „Den Zufall trägt der Eigentümer”) bestimmten nicht schon die alten Lateiner, sondern ist auch ein fundamentaler Grundsatz des allgemeinen Zivilrechts. Dieser Grundsatz besagt, dass Schäden an eigenen Rechtsgütern grundsätzlich vom Eigentümer selbst zu tragen sind.
Das Schadenersatzrecht regelt, wann dieser Grundsatz ausnahmsweise nicht gilt und ein Geschädigter Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Schadens durch eine andere Partei haben soll. Ohne auf die weiteren Details der verschiedenen Anspruchsgrundlagen einzugehen, ist eine zentrale Voraussetzung für jeglichen Schadenersatz das Vorliegen eines Schadens. Der Rechtssatz lautet stets: Ohne Schaden gibt es keinen Schadenersatz.
Es sind Situationen denkbar, wo noch kein Schaden vorliegt, aber das Ereignis, das zu einem späteren Schaden (möglicherweise) führen wird, ist bereits eingetreten. In diesen Fällen kann der Geschädigte innerhalb der Verjährungsfrist eine Feststellungsklage mit dem Ziel einbringen, dass das Gericht die Schadenersatzpflicht des Schädigers für zukünftige Schäden feststellt. Ohne Verweis auf mögliche Schäden in der Zukunft funktioniert also auch die Feststellungsklage nicht.
Juristen haben über die Jahrhunderte viel darüber nachgedacht, was zu einem ersatzfähigen Schaden zählt. Darauf ist später noch zurückzukommen. An dieser Stelle ist es wichtig zu wissen, dass es in Bezug auf die Voraussetzung des Vorliegens eines Schadens völlig unerheblich ist, ob Geschädigter und Schädiger außerhalb einer Vertragsbeziehung stehen (zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall) oder eine Vertragsbeziehung eingegangen sind (zum Beispiel bei einem ärztlichen Behandlungsvertrag). Anders gesprochen: Ein Arzt, der gegen den Behandlungsvertrag verstößt, muss keinen Schadenersatz leisten, sofern sein Patient keinen Schaden erlitten hat und diesem auch in der Zukunft kein Schaden droht.
Und damit sind wir am Zwiebelkern des Problems angelangt, was man unter den Schlagworten „wrongful birth“ und „wrongful conception“ erörtert.
Was versteht man unter „wrongful birth“ und „wrongful conception“ und wie lautete die bisherige OGH-Rechtsprechung?
„Wrongful birth” und „Wrongful conception” sind von Juristen kreierte Begriffe, die sich auf Fälle beziehen, in denen Eltern ein Kind bekommen, das sie ursprünglich nicht wollten.
„Wrongful birth” bezieht sich auf den Sachverhalt, wonach ein Arzt es versäumt hat, eine schwangere Patientin über die schwere Behinderung ihres ungeborenen Kindes aufzuklären und das schwer behinderte Kind zur Welt gebracht wird. Hätte der Arzt über die schwere Behinderung aufgeklärt, hätte sich die Mutter (die Eltern) gegen die Geburt entschieden.
„Wrongful conception” hingegen bezieht sich auf Fälle, in denen das rechtswidrige Verhalten eines Arztes zu einer ungewollten Schwangerschaft (mit einem gesunden Kind) führt, wie z.B. bei einer fehlerhaft durchgeführten Vasektomie oder mangelhaft vorgenommenen Eileiterunterbindung oder Bruch einer fehlerhaft eingesetzten Spirale.
Ärzte, die wegen „wrongful birth” oder „wrongful conception” verklagt wurden, haben geltend gemacht, dass selbst ein ungewolltes Kind aufgrund des Eigenwerts eines jeden Menschen nicht als Schaden anzusehen ist, weshalb sie (bzw. der Arzthaftpflichtversicherer) nicht zum Schadenersatz verpflichtet werden dürfen.
Tatsächlich war diese Argumentation zum Teil erfolgreich. Die bisherige Rechtsprechung zum Ersatz des Unterhaltsschadens war insofern uneinheitlich, als sie zwischen Fällen der unerwünschten Empfängnis („wrongful conception“) eines gesunden und der unerwünschten Geburt („wrongful birth“) eines behinderten Kindes differenzierte:
- Die Rechtsansicht des OGH in „wrongful birth“-Fällen knapp zusammengefasst: Die Vertragspflicht des Arztes umfasst auch den Schutz vor Vermögensnachteilen infolge der unerwünschten, bei ordnungsgemäßer Aufklärung unterbliebenen Geburt eines schwerstbehinderten Kindes. Ein negatives Werturteil über das Kind sei damit nicht verbunden. In der Folge wurde diese Judikaturlinie trotz Kritik im juristischen Schrifttum in mehreren Entscheidungen fortgesetzt. Die Haftung des Arztes erstrecke sich – allenfalls gekürzt durch ein Mitverschulden – auf den gesamten, den Klägern durch die mangelhafte Aufklärung über die Behinderung des Kindes erwachsenden Nachteil.
- Bei „wrongful conception“-Sachverhalten lehnte der OGH eine Schadenersatzpflicht des Arztes bzw. Haftpflichtversicherers hingegen ab. Die Geburt eines gesunden, wenn auch unerwünschten Kindes bedeute keinen Schaden im Rechtssinn. Die Überwälzung eines Aufwands im Wege des Schadenersatzrechts setze das Vorliegen eines ersatzfähigen Schadens voraus. Ein solcher sei aber in der Geburt eines Kindes im Regelfall nach der Wertung der Rechtsordnung gerade nicht zu erblicken.
Wem diese Unterscheidung gekünstelt und willkürlich vorkommt, hat ein feines Rechtsgefühl. Denn der OGH hat – allerdings nach Jahrzehnten – mit dem nunmehr vorliegenden Urteil eines verstärkten Senats seine Judikatur grundlegend geändert. Nunmehr vertritt der OGH unterschiedslos folgende Rechtsansicht:
- Sowohl bei einem medizinischen Eingriff, der die Empfängnisverhütung bezweckt, als auch bei der Pränataldiagnostik sind die finanziellen Interessen der Eltern an der Verhinderung der Empfängnis bzw. der Geburt vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst.
- Wäre das Kind bei fachgerechtem Vorgehen bzw. ordnungsgemäßer Aufklärung nicht empfangen bzw. nicht geboren worden, haftet der Arzt unabhängig von einer allfälligen Behinderung des Kindes für den von den Eltern für das Kind zu tragenden Unterhaltsaufwand.
- Im Falle behinderter Kinder haftet der Arzt nicht nur für den behinderungsbedingten Mehraufwand (wie es etwa bei einem Kunstfehler beim Geburtsvorgang der Fall ist), sondern für den gesamten Unterhaltsaufwand. Denn hätte sich der Arzt rechtmäßig verhalten, wäre das Kind überhaupt nicht zur Welt gekommen, sodass schadenersatzrechtlich nur die Situation mit und ohne Kind verglichen werden kann.
Die Rechtsprechung, wonach es sich bei „wrongful birth“ und „wrongful conception“ um zwei unterschiedlich zu beurteilende Fallgruppen handle, ist somit vom verstärkten Senat aufgegeben worden.
Kritik:
Muss man aus dem Urteil ableiten, dass nach Auffassung des OGH nunmehr alle unerwünschten Kinder als Schaden anzusehen sind? Nein, ganz und gar nicht, denn vielmehr das Gegenteil ist der Fall. Das Urteil bedeutet, dass der OGH den Eigenwert des Menschen vom Vermögensschaden durch Unterhaltungskosten trennt. Nicht das Kind selbst ist der Schaden, sondern die Unterhaltsverpflichtung, die nicht entstanden wäre, hätte der Arzt seine Vertragspflichten legis artis erfüllt. Im Fall eines nicht gewollten Kindes stellt also nicht dessen Geburt oder Existenz der Schaden im Rechtssinn dar, sondern der aus seiner Geburt resultierende finanzielle Aufwand. Dies muss dann aber gleichermaßen bei jedem nicht erwünschten Kind gelten, also unabhängig davon, ob es gesund oder mit einer Behinderung geboren wird, weshalb der OGH logisch zwingend die Unterscheidung aufgegeben hat. Bedauerlich ist nur, dass es Jahrzehnte gedauert hat, bis sich der OGH zu dieser Entscheidung durchgerungen hat.
Schlussbemerkung zur geltend gemachten Schadensminderungspflicht der Eltern:
Im vorliegenden Verfahren hat der verklagte Arzt in allen Instanzen vorgebracht, die Eltern hätten gegen ihre Schadensminderungsobliegenheit dadurch verstoßen, indem sie ihr schwerbehindertes Kind nicht nach der Geburt zur Adoption freigegeben haben. Sicherlich, mit der Freigabe zur Adoption hätten sich die Eltern den Unterhaltsaufwand ersparen können. Zu diesem zynischen Einwand sprach der OGH jedoch aus, dass es „auf der Hand [liege], dass Eltern im Zeitpunkt der Geburt ihres (wider Erwarten schwer behinderten) Kindes, auf das sie sich in Unkenntnis der wahren Sachlage gefreut hatten, bereits eine starke emotionale Bindung aufgebaut haben, deren Abbruch zum Zweck der Schadensminderung nicht zumutbar ist“. Eltern müssen also ihr Kind nicht zur Adoption geben, damit Ärzte bei fehlerhafter Arbeit weniger zahlen müssen. Danke schön, liebe Richter des OGH, dass ihr der Ärzteschaft aufgezeigt habt, was es heißt, Mensch zu sein.
Quelle: OGH verst. Senat, 3 Ob 9/23d, Urteil vom 21.11.2023
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